Zahlen und Fakten
31.861 Tatverdächtige unter 21 Jahren wurden laut Polizeilicher Kriminalstatistik (PKS) 2009 im Jahr 2008 in Berlin ermittelt. Dies stellt in absoluten Zahlen die niedrigste Anzahl seit Einführung der Gesamtberliner Polizeistatistik dar. Insbesondere im Bereich der sogenannten Jugendgruppengewalt, wozu Raub, Erpressung, Körperverletzung, Bedrohung und Sachbeschädigung zählen, wird ein Rückgang um ca. 20 Prozent festgestellt. Rohheitsdelikte wie gefährliche Körperverletzung und Raub ohne Gruppenbezug sind rückläufig, stagnieren jedoch auf relativ hohem Niveau bei 24,5 Prozent gegenüber 25,2 Prozent in 2007 der zur Tatzeit 14- bis noch nicht 21-Jährigen gegenüber den Erwachsenen.
Dies sind die Kernaussagen, die der Berliner Polizeipräsident und der Innensenator im Frühjahr 2009 zu verkünden hatten. Dieser an sich positive statistische Trend scheint jedoch nicht der Wahrnehmung von Teilen der Bevölkerung zu entsprechen, weshalb sich die Frage erhebt, inwieweit den Zahlen auch eine valide Aussagekraft innewohnt bzw. ob nicht bereits die PKS selbst andere Deutungen zulässt.
Kriminalität ist nach wie vor überwiegend männlich, obwohl die junger Frauen in den letzten Jahren zunimmt. Begingen sie früher überwiegend Diebstähle, sind sie mittlerweile insbesondere im Bereich der Körperverletzung stärker vertreten. „Zickenalarm" endet nicht selten mit schweren Misshandlungen, speziell das Herausreißen der riesigen Kreolen aus den Ohrlöchern ist eine blutige und häufig angewandte Methode. Meistens geht es um vorangegangenes Mobbing in der Schule oder im Wohnumfeld, die die Körperverletzung begleitende Wortwahl ist unschön, Begriffe wie „Hure", „Schlampe", „Nutte" haben Standardcharakter erlangt. Mir fällt auf, dass auch die weiblichen Angeklagten bei der Tatbegehung häufig alkoholisiert sind, und man wundert sich manchmal, zu welcher Brutalität solch zarte Gestalten unter Schnaps oder anderen Drogen stehend fähig sind. Insgesamt kann aus meiner Sicht aber behauptet werden, dass kriminelles Verhalten junger Frauen noch deutlich episodenhafter ist als das der Männer; insbesondere im Bereich der Intensivtäter gibt es nahezu keine Frauen. Sie sind nach wie vor im Schnitt durch Interventionen besser zu erreichen, hören bei der Gerichtsverhandlung eher zu, zeigen Einsicht in ihr Fehlverhalten, erfüllen ihre Auflagen zuverlässiger und schneller.
Laut PKS Berlin betrug der Anteil der weiblichen Tatverdächtigen in 2008 immerhin 27,9 Prozent. Statistisch gesehen stehen hier Diebstahl und Schwarzfahren im Vordergrund, unterdurchschnittlich fällt der Anteil der jungen Frauen bei Sachbeschädigung, Rauschgiftdelikten (zumindest auf der Dealer-Seite), Raubtaten und Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte aus. Interessant finde ich, dass es so gut wie keine Sachbeschädigung in Form von Graffiti gibt, die durch Mädchen begangen wird, genauso wie im Übrigen junge Männer mit Migrationshintergrund zwar allerlei Straftaten begehen, in diesem Deliktsfeld aber ebenso stark unterrepräsentiert sind. Bei den weiblichen Tatverdächtigen unter 21 Jahren weist die PKS 2009 einen Anteil von 4,3 Prozent bei Graffiti-Vergehen auf, was extrem wenig ist. Bezogen auf den Anteil der nichtdeutschen Jugendlichen begehen hingegen die deutschen Jugendlichen 1,7-mal häufiger Sachbeschädigung durch Schmierereien in der Öffentlichkeit. Im Vergleich dazu tauchen jugendliche männliche Personen mit Migrationshintergrund in der PKS überproportional häufig im Bereich der Gewaltdelikte auf. Im Verhältnis zu ihrem Bevölkerungsanteil wurden Jugendliche nichtdeutscher Herkunft 2,2-mal häufiger wegen Sexualdelikten, 1,7-mal häufiger wegen Straßenkriminalität, 2,3-mal häufiger wegen Gewaltkriminalität, 2,3-mal häufiger wegen gefahrlicher und schwerer Körperverletzung, 2,4-mal häufiger wegen Straßenraubes und dreimal häufiger wegen Schwarzfahrens belangt als männliche deutsche Jugendliche.
Insgesamt lag im Jahr 2008 der Anteil der jugendlichen Tatverdächtigen bezogen auf alle Straftaten bei 9,9 Prozent. Der entsprechende Bevölkerungsanteil bewegt sich hingegen lediglich bei 3,2 Prozent. Ähnlich verhält es sich bei den Heranwachsenden mit einem Anteil von 9,6 Prozent der Tatverdächtigen bei einem Bevölkerungsanteil von 3,3 Prozent. Über den Zeitraum von zehn Jahren betrachtet ist zu erkennen, dass der Anteil der unter 21-Jährigen an der Berliner Gesamtbevölkerung von 20,5 Prozent auf 17,8 Prozent gesunken ist. 4,1 Prozent aller ermittelten Tatverdächtigen waren Kinder, deren Bevölkerungsanteil bei 11,3 Prozent liegt. Vor diesem Hintergrund ist der der PKS 2008 zu entnehmenden Abnahme der Jugendkriminalität von 26,5 Prozent in 1999 auf 23,6 Prozent in 2008 bezogen auf alle Tatverdächtigen mit großer Vorsicht zu begegnen. Dies umso mehr, als zwar ausweislich der Statistik die Raubdelikte stark rückläufig sein sollen, bei den schwersten Erscheinungsformen dieser Deliktsgruppe hingegen ein auffallend hoher Anteil von Tatverdächtigen unter 21 Jahren zu verzeichnen ist. So waren bei Mord im Zusammenhang mit Raubdelikten acht Tatverdächtige von 13, bei Raubüberfällen auf Spielhallen 13 von 17, bei Raubüberfällen auf Tankstellen zehn von 14, bei Handtaschenraub 61 von 101 und bei schwerem Raub aus Wohnungen 56 von 96 unter 21 Jahre alt. Beim Wohnungseinbruchdiebstahl lag der Anteil der unter 21-Jährigen bei 38,2 Prozent.
Bereits aus dem Zahlenwerk der PKS ergibt sich demzufolge, dass die Jugendlichen und Heranwachsenden, gemessen an ihrem Bevölkerungsanteil, überproportional häufig straffällig werden und - was besonders bedenklich erscheint - an den erheblichen Straftaten deutlich vermehrt beteiligt sind. Es wird dieser Erkenntnis häufig entgegengehalten, Jugendliche und Heranwachsende seien in ihrer „Sturm- und Drangphase" schon immer anfällig für kriminelle Handlungen gewesen, das „wachse sich dann schon irgendwann aus". Dies ist meistens zutreffend. Jedoch kommen auch rein statistisch gesehen inzwischen so erhebliche und auch zahlreiche Straftaten vor, dass es weder dem Jugendlichen nützlich noch den Opfern zumutbar ist, abzuwarten, bis die „pubertätsbedingte" kriminelle Phase ihr Ende findet.
Im Übrigen sollte man sich über die alljährlichen Zahlen hinausgehend der Mühe eines Langzeitvergleiches unterziehen. Hierfür werde ich mich auf den Berliner Bezirk Neukölln beziehen, für den ich zuständig bin und dem ich mich später noch ausführlich widmen werde. Mir liegen Zahlen vor, die durch das Bezirksamt Neukölln erhoben worden sind und sich aus der Zahl der bei der Jugendgerichtshilfe (JGH) eingehenden Strafverfahren speisen. Diese Behörde ist am Jugendstrafverfahren beteiligt und erhält von der Polizei sämtliche Schlussberichte über Strafverfahren gegen die im Bezirk wohnhaften Jugendlichen und Heranwachsenden. Der Abgleich über die Zeitspanne von 1990 bis 2008 ist lohnend. Wurden im Jahre 1990 1600 Verfahren geführt - wobei in einem Verfahren auch mehrere Taten enthalten sein können -, waren es 2008 3585 (in 2007 3562), was einer Zunahme um 124 Prozent entspricht. Im Bereich der Körperverletzung ist eine Steigerung von 274 Prozent zu verzeichnen, beim Raub um 144 Prozent und bei Eigentumsdelikten um 194 Prozent. Festzuhalten ist dementsprechend, dass im Bezirk Neukölln ein nennenswerter Rückgang der Verfahren in dem Jahresvergleich von 2007 zu 2008 gar nicht zu verzeichnen ist. Hinzu kommt die Tatsache der kontinuierlichen Zunahme der Jugendkriminalität über knapp zwanzig Jahre bei stetig abnehmender Geburtenrate. Die extremen Unterschiede zwischen den Zahlen der PKS bezogen auf Gesamtberlin und auf einen sehr großen Bezirk mit immerhin ca. 300.000 Einwohnern - was knapp einem Zehntel der Einwohnerzahl Berlins entspricht - verwundern.
Zusammenfassend darf festgestellt werden, dass Jugendliche und Heranwachsende vorwiegend im Bereich der Körperverletzungen, des Schwarzfahrens, der Sachbeschädigung, des Ladendiebstahls, der Rauschgiftdelikte, der Raubtaten und des Widerstandes gegen Vollstreckungsbeamte in Erscheinung treten. Überwiegend trifft die These, dass sich strafbares Verhalten junger Menschen ungefähr mit Anfang zwanzig „auswächst", nach wie vor zu. Dennoch kommt der Eindruck, dass sich etwas verändert hat, bereits in den zitierten Zahlen aus der Langzeitbeobachtung Neuköllns zum Ausdruck. Ein weiteres Indiz für eine problematische Entwicklung in der Jugendkriminalität ergibt sich aus der Berücksichtigung der sogenannten „Intensivtäter". Was verbirgt sich hinter dem Begriff „Intensivtäter"?
Unglücklicherweise definieren Polizei und Staatsanwaltschaft den Begriff des Intensivtäters unterschiedlich. Die Polizei bezeichnet eine Person dann als Intensivtäter, wenn er beharrlich und mit einem hohen Maß an krimineller Energie den Rechtsfrieden besonders störende Straftaten begeht (z. B. Raub und sonstige Rohheitsdelikte). Die Staatsanwaltschaft ordnet einem jungen Menschen, der innerhalb eines Jahres mindestens zehn erhebliche Delikte begangen hat, einen für ihn zuständigen Staatsanwalt zu und nimmt ihn in die Intensivtäterliste auf. Die Staatsanwaltschaft bündelt an dieser Stelle alle Verfahren und hat auf diese Weise stets den Überblick, welche Taten wer mit wem begangen hat, wobei auch diejenigen Verfahren herangezogen werden, die der Jugendliche im strafunmündigen Alter, sprich vor Erreichen des 14. Lebensjahres, ausgelöst hat. Auf dieselbe Weise wird bei der Polizei vorgegangen. Die Einrichtung der Abteilung 47 der Staatsanwaltschaft Berlin in 2003, die die Intensivtäterverfahren bearbeitet, war nie unumstritten. Einige Jugendrichterkollegen, Vertreter des Jugendamtes, Strafverteidiger und Kriminologen vertreten die Auffassung, der Begriff stigmatisiere. Diese Ansicht teile ich nicht. Schließlich begeht der Täter erst die Delikte und erhält dann die Bezeichnung „Intensivtäter" und nicht umgekehrt.
Die Staatsanwaltschaft führt entsprechend ihrer Definition zurzeit etwa 550 Personen als Intensivtäter. Hiervon unterfallen etwa drei Viertel der Zuständigkeit des Jugendrichters, sind also bei Tatbegehung zwischen 14 und 21 Jahre alt. Insgesamt hört sich diese Zahl für eine Millionenstadt wie Berlin beruhigend an. Man darf aber nicht außer Acht lassen, dass laut einer Studie von Prof. Claudius Ohder, die bezogen auf 264 Intensivtäter im Auftrag der Berliner Landeskommission gegen Gewalt angefertigt wurde, von diesen Beschuldigten knapp 7000 Straftaten begangen wurden (Heft Nr. 26 des „Berliner Forums Gewaltprävention"). Da es sich hierbei um erhebliche Delikte handelt, verschiebt sich der Eindruck der Harmlosigkeit ein wenig. Hochgerechnet auf die momentane Anzahl von 550 Intensivtätern ergibt sich eine bedenkliche Anzahl gravierender Straftaten, durch die Tausende von Opfern geschädigt wurden.
Die Berliner Polizei zählt sodann noch zusätzlich im Rahmen der täterorientierten Ermittlungen (TOE) die „Kiezorientierten Mehrfachtäter (KoMT)", die im Umfeld ihres Aufenthalts- und Wohnortes minder schwere, aber das Sicherheitsgefühl der Bevölkerung beeinträchtigende Straftaten begehen, und die „Schwellentäter (ST)", die unter 21 Jahre alt sind, wiederholt - in der Definition der Staatsanwaltschaft mindestens fünfmal - durch Gewalttaten auffallen und bei denen die Wahrscheinlichkeit einer kriminellen Karriere hoch ist. Auch hier sind Sondersachbearbeiter tätig. Die Anzahl der im Folgenden dargestellten Zahlen ist nicht der Maßstab für das jährliche Ausmaß der Kriminalität, da die Erhebungen nicht einem Jahreszyklus folgen, sondern kumulativ erfasst werden. Dennoch lassen die Daten Schlüsse zu. Die Polizei führt laut PKS 2009 1354 Personen im TOE-Programm, von denen 390 jugendlich und 488 heranwachsend sind, das entspricht 64,8 Prozent. Bezogen auf den oben dargestellten Bevölkerungsanteil ist dies eine bemerkenswerte Feststellung.
Ein weiterer, nicht zu übersehender Umstand findet sich in der Berücksichtigung des sogenannten Migrationshintergrundes der Täter. Von den polizeilich erfassten jugendlichen und heranwachsenden Intensivtätern haben inzwischen 71 Prozent einen Migrationshintergrund. In Neukölln sind es sogar mehr als 90 Prozent. Insgesamt kommt die PKS 2009 zu dem Ergebnis, dass, je schwerer die Delikte sind, desto höher der Anteil der Einwanderer bzw. ihrer Kinder ausfallt. Ein vergleichbares Bild ergibt sich bei der Auswertung der Erkenntnisse der Staatsanwaltschaft. Auch hier liegt der Anteil der Intensivtäter mit Migrationshintergrund bei inzwischen 80 Prozent. Die Aufteilung innerhalb der migrantischen Communi-tys ist ebenfalls erwähnenswert, da die „staatenlosen palästinensischen" Jugendlichen und Heranwachsenden mit etwa 43 Prozent, die türkischen mit ca. 34 Prozent zu Buche schlagen. Deutsche, Vietnamesen, Russen und Angehörige der Balkanstaaten schließen sich an.
Übrigens verkündete auch der damalige Bundesinnenminister Schäuble im Juni 2009, dass Deutschland ein sicheres Land sei. Zwar seien die bevölkerungsreichen Großstädte Berlin, Hamburg, Köln, München und Frankfurt am Main wiederum die Kriminalitätszentren, wobei Frankfurt mit 15.976 Straftaten pro 100.000 Einwohner den Spitzenplatz einnehme. Allgemein hätten die Fahrraddiebstähle und Wohnungseinbrüche am Tage zugenommen, während Diebstähle ansonsten rückläufig seien. Eine Zunahme sei beim Ausspähen von Computerdaten sowie bei Betrügereien durch rechtswidrig erlangte Daten von Zahlungskarten zu verzeichnen, hier mit 107 Prozent sogar signifikant. Dafür gebe es eine Entspannung bei den Gewalttaten, nämlich einen Rückgang um 3,2 Prozent. Immerhin wird angegeben, dass brutale Übergriffe auf Straßen und Plätzen häufiger zu verzeichnen waren. Hier ergibt sich ein Zuwachs von 9,1 Prozent. Ein ähnliches Bild ergebe sich bei Sachbeschädigungen, die sich auf 6,6 Prozent erhöht haben. Die Jugendkriminalität sank statistisch bundesweit um 5,9 Prozent, wobei man wissen muss: Alle Zahlen stellen sich als Vergleiche zum Vorjahr dar. Selten wird der Öffentlichkeit bei der Präsentation der Zahlen ein Langzeitvergleich zur Verfügung gestellt, und es erfolgt auch kaum die Berücksichtigung des demografischen Faktors bei der Bewertung jenes Rückganges der Jugendkriminalität - jedenfalls nicht in einer für die Öffentlichkeit verständlichen Weise.
Die polizeiliche Kriminalstatistik für 2009 lag mir zum Zeitpunkt des Abschlusses dieses Buches noch nicht vor. Ich prognostiziere für den Bereich der Jugendkriminalität weiter sinkende Zahlen, die nicht überall im Land mit der Lebenswirklichkeit in Vereinbarung gebracht werden können. Selbst aus Polizeikreisen ist inzwischen zu vernehmen, dass die Statistik Verzerrungen unterliegt, die ein realistisches Abbild der Kriminalitätslage verhindern. So sei zu bedenken, dass z. B. nicht jede E-Bay-Betrügerei als einzelne Tat erfasst wird. Sind mehrere gleich gelagerte Taten einer Person zuzuordnen, wird eine Betrugsanzeige angefertigt. Dann geht z.B. bei einer Serie von 100 Einzelakten gegebenenfalls eine Tat in die Statistik ein. Darüber hinaus werden die Delikte erst statistisch erfasst, wenn die Verfahren bei der Polizei abgeschlossen sind. Das wirkt sich bei schwierigen Ermittlungen oder Tätern, die in Serie strafbare Handlungen begehen, aus. Die möglicherweise im Jahr 2009 begangenen Taten gehen nicht in die jeweilige PKS ein, weil der Sachbearbeiter immer neue Vorgänge verbinden muss. Die Hoffnung, dass die Statistik der erfolgten Verurteilungen eine realistische Einschätzung bezüglich der Anzahl der jährlich begangenen Taten zulässt, erfüllt sich leider ebenfalls nicht. Auch hier werden nur die verfahrensgegenständlichen Delikte, aber nicht deren genaue Anzahl erfasst.